Verstoß gegen das Gebot des fairen Verhandelns bei einem Aufhebungsvertrag
Der Intelligenzquotient des Mitarbeiters ist weit unterdurchschnittlich. Er besuchte lediglich eine Sonderschule; eine Ausbildung konnte er nicht abschließen. Bei einem Personalgespräch am 18.02.2022 wurde dem Mitarbeiter neben einem Aufhebungsvertrag gleichzeitig eine Abmahnung ausgehändigt. Diese betraf zwei Tage im Januar, an denen der Mitarbeiter nicht zur Arbeit erschienen sein soll. Der Mitarbeiter unterzeichnete des Aufhebungsvertrag. Später vertrat er die Ansicht, die Arbeitgeberin habe bei Abschluss des Aufhebungsvertrags seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten willentlich und wissentlich ausgenutzt. Er sei davon ausgegangen, dass man ihn wegen des Fehlens an den zwei Tagen im Januar abmahnen wollte und man ihm gleichzeitig eine Kündigung ausgehändigt habe. Mit dieser Vorgehensweise habe die Arbeitgeberin gegen das Gebot des fairen Verhandelns verstoßen.
Das Arbeitsgericht gab der Klage des Mitarbeiters auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses des Mitarbeiters über den 31.05.2022 hinaus statt. Die Berufung wurde gesondert zugelassen.
Des Weiteren berücksichtigte das Gericht auch die Begleitumstände des Zustandekommens des streitgegenständlichen Aufhebungsvertrags. In besonderem Maße wirkt sich dabei für die Arbeitgeberin negativ aus, dass dem Mitarbeiter zusammen mit dem bereits unterschriebenen Aufhebungsvertrag eine Abmahnung übergeben wurde, deren Empfang der Mitarbeiter durch seine Unterschrift bestätigte. Dabei betrifft die Abmahnung Vorfälle, bzgl. derer die Arbeitgeberin zuvor signalisiert hatte, dass sie diese nicht mehr für kündigungsrechtlich relevant hält. Es ist also kein Grund erkennbar, warum sie dem Mitarbeiter den Aufhebungsvertrag gemeinsam mit der Abmahnung ausgehändigt hat, außer dem, dass die Arbeitgeberin unter bewusstem Ausnutzen der fehlenden intellektuellen Fähigkeiten des Mitarbeiters den Abschluss des Aufhebungsvertrags forcieren wollte. Dabei kann dahinstehen, ob die Schwelle des § 123 Abs. 1 BGB vorliegend durch das Verhalten der Arbeitgeberin bereits überschritten worden ist, da die Arbeitgeberin zumindest gegen das Gebot des fairen Verhandelns verstoßen hat.
Unter Berücksichtigung der vorherigen Gesichtspunkte und der langen Betriebszugehörigkeit des Mitarbeiters hätte die Arbeitgeberin den Mitarbeiter auf eine gewisse Bedenkzeit hinweisen müssen, um das Gebot des fairen Verhandelns zu wahren. Durch das Unterlassen drängte sich für das Gericht die Vermutung auf, dass die Arbeitgeberin die intellektuelle Schwäche des Mitarbeiters bewusst ausnutzte, um den Abschluss des Aufhebungsvertrages zu erreichen. Dies führte vorliegend zu einer schuldhaften Verletzung des Gebots des fairen Verhandelns.
Die gesonderte Zulassung der Berufung folgte aus § 64 Abs. 3 Nr. 1 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG=. Die Rechtssache hat grundsätzlich Bedeutung, da es sich um eine klärungsbedürftige Rechtsfrage handelt. Das Gericht ist mit seiner Entscheidung von der Rechtsprechung des BAG (BAG, Urt. v. 24.02.2022, Az. 6 AZR 333/21; BAG, Urt. v. 07.02.2019, Az. 6 AZR 75/18) bzgl. des Gebots des fairen Verhandelns dahingehend abgewichen, dass es für notwendig ansieht, in Ausnahmefällen dem Mitarbeiter eine gewisse Bedenkzeit, verbunden mit einem Hinweis darauf, einzuräumen.