Sittenwidrige Arbeitsvergütung innerhalb eines Wirtschaftsgebiets
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht gaben der Arbeitgeberin Recht und wiesen die Klage ab. Die Mitarbeiterin hatte keinen Anspruch aus § 612 Abs. 2, § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auf Zahlung der Differenz zu dem Tariflohn für die Monate Oktober, November und Dezember 2020. Die in den Monaten Oktober bis einschließlich Dezember 2020 gewährte Vergütung war nicht sittenwidrig gering. Die dieser Zahlung zugrundeliegende (konkludente) Lohnabrede war nicht unwirksam bzw. nichtig. Das auffällige Missverhältnis bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. Das Missverhältnis ist auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne weiteres ins Auge springt. Erreicht die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts, liegt eine ganz erhebliche, ohne weiteres ins Auge fallende und regelmäßig nicht mehr hinnehmbare Abweichung vor, für die es einer spezifischen Rechtfertigung bedarf. Dasselbe gilt, wenn bei fehlender Maßgeblichkeit der Tarifentgelte die vereinbarte Vergütung mehr als ein Drittel unter dem Lohnniveau, das sich für die auszuübende Tätigkeit in der Wirtschaftsregion gebildet hat, bleibt. Von der Üblichkeit der Tarifvergütung kann ohne weiteres ausgegangen werden, wenn mehr als 50% der Arbeitgeber eines Wirtschaftsgebiets tarifgebunden sind oder wenn die organisierten Arbeitgeber mehr als 50% der Arbeitnehmer eines Wirtschaftsgebiets beschäftigen. Wirtschaftsgebiet ist bei ortsgebunden tätigen Unternehmen regelmäßig der räumliche Bereich, in dem die Betriebsstätte liegt und aus dem der wesentliche Teil des Personals stammt. In subjektiver Hinsicht verlangt der Tatbestand des Lohnwuchers eine Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen. Ein Arbeitgeber beutet die auf den oben genannten Umständen beruhende Schwächesituation eines Arbeitnehmers aus, wenn er sich in Kenntnis vom Missverhältnis der beiderseitigen Leistungen diese Schwäche bewusst zunutze macht. Der subjektive Tatbestand des wucherähnlichen Geschäfts i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB erfordert eine verwerfliche Gesinnung des Arbeitgebers.
Die Vergütung der Mitarbeiterin wies nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts schon kein auffälliges Missverhältnis zu dem objektiven Wert ihrer Arbeitsleistung auf. Das ihr gezahlte Entgelt ist nicht um mehr als 1/3 geringer als der objektive Wert der von ihr auszuübenden Arbeitsleistung im Wirtschaftszweig und Wirtschaftsgebiet. Darüber hinaus hatte die Arbeitgeberin nicht eine Zwangslage der Mitarbeiterin, eine Unerfahrenheit, einen Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche der Mitarbeiterin ausgenutzt. Zunutze gemacht hatte sich die Arbeitgeberin lediglich die wirtschaftliche Situation im Umkreis ihres Standorts, d. h. den Mangel an besser vergüteten Arbeitsangeboten für eine solche Tätigkeit in dem Gebiet und die eingeschränkte Mobilität der Arbeitnehmer. Die Arbeitgeberin hatte nicht in Kenntnis des Missverhältnisses der beiderseitigen Leistungen eine persönliche Schwächesituation der Mitarbeiterin ausgenutzt, sondern sich schlicht an dem allgemeinen Lohnniveau des Großraums ihres Standorts orientiert.
Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 26.07.2022
Aktenzeichen: 5 Sa 284/21