Scheinselbständige Rechtsanwälte in einer Kanzlei
Für die Abgrenzung von sog. scheinselbständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend; soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. Beitragszahlungen von Schwarzarbeitern und illegal Beschäftigten aufgrund einer mit dem Arbeitgeber getroffenen Vereinbarung lassen nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit des § 266a Abs. 1 und 2 Strafgesetzbuch (StGB) entfallen, sondern sind erst auf der Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in einer Strafsache wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) zur Abgrenzung von sog. scheinselbständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei geäußert.
Ein seit 1982 niedergelassener Rechtsanwalt beschäftigte über ein von ihm praktiziertes „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ in seiner Kanzlei „S. & Kollegen“ im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum von 2013 bis 2017 als alleiniger Kanzleiinhaber zwölf Rechtsanwälte als selbständige freie Mitarbeiter. Vor Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei schloss der angeklagte Kanzleiinhaber mit den Rechtsanwälten einen im Wesentlichen gleichlautenden schriftlichen Vertrag („Freier Mitarbeitervertrag“) über eine zeitlich nicht befristete Zusammenarbeit sowie – in zehn dieser Fälle – eine im Wesentlichen gleichlautende weitere schriftliche Zusatzvereinbarung.
Während der Mitarbeitervertrag insbesondere regelte, dass der Rechtsanwalt als freier Mitarbeiter für die Kanzlei tätig war, seine Sozialabgaben selbst abführte, eigenes Personal beschäftigen und selbst werben durfte sowie berechtigt war, das vereinbarte Jahresgehalt in monatlichen Teilbeträgen abzurufen, sah die Zusatzvereinbarung namentlich vor, dass die Beschäftigung eigenen Personals und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Kanzlei bedurften und Werbemaßnahmen abzustimmen und zu genehmigen waren.
Die vorgefertigten Vertragsentwürfe legte der angeklagte Kanzleiinhaber den Rechtsanwälten zur Unterschrift vor, die sie ohne weiteres Aushandeln unterzeichneten. Während ihrer Beschäftigung waren die Rechtsanwälte nur für den angeklagten Kanzleiinhaber tätig, der ihnen auch die zu bearbeitenden Mandate zuwies. Sofern sie keine auswärtigen Termine wahrzunehmen hatten, erbrachten sie ihre Tätigkeit, wie vom angeklagten Kanzleiinhaber erwartet und eingefordert, zu den Kanzleizeiten nahezu ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten; hierfür stellte ihnen der angeklagte Kanzleiinhaber, ohne sie an den Kosten zu beteiligen, neben einem eigenen Büro das geschulte kanzleiinterne Personal sowie die gesamte sonstige Infrastruktur seiner Kanzlei zur Verfügung. Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die Rechtsanwälte regelmäßig einmal pro Monat anteilig, also in Höhe eines Zwölftels, per Rechnung ab, unabhängig von dem durch sie in dem jeweiligen Abrechnungszeitraum erwirtschafteten Umsatz.
Das Landgericht hatte den angeklagten Kanzleiinhaber wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 189 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hatte, verurteilt. Daneben hatte es gegen den angeklagten Kanzleiinhaber eine Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200 EUR verhängt sowie die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von ca. 120.000 EUR angeordnet.
Die Revision des Kanzleiinhabers vor dem BGH ergab keine Änderung des Schuldspruchs.
Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass zwischen dem angeklagten Kanzleiinhaber und den zwölf Rechtsanwälten sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bestanden. Die vertraglichen Vereinbarungen, insbesondere aber die tatsächlichen Gegebenheiten der „gelebten Beziehung“ und das Fehlen jedweden unternehmerischen Risikos belegten, dass die Rechtsanwälte ihre Tätigkeit nicht als selbständige freie Mitarbeiter, sondern als abhängig Beschäftigte ausübten.
Ausgehend von den vertraglichen Vereinbarungen hat das Landgericht ohne Rechtsfehler zunächst als Beleg für eine abhängige Beschäftigung herangezogen, dass die Rechtsanwälte dem angeklagten Kanzleiinhaber nach dem „Mitarbeitervertrag“ als Gegenleistung für ein fest vereinbartes Jahreshonorar ihre ganze Arbeitskraft (etwa bei voller Arbeitsleistung 40 bis 60 Stunden/Woche) zur Verfügung stellen mussten. Zudem hat es insoweit berücksichtigt, dass die Möglichkeit der Beschäftigung eigenen Personals, der Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei und der Werbung in eigener Sache – als für eine Selbständigkeit sprechende Umstände von Gewicht – durch die in fast allen Fällen geschlossene Zusatzvereinbarung und die vereinbarten dort Zustimmungserfordernisse faktisch wieder ausgehebelt wurden.
Auch die tatsächlichen Gegebenheiten erlaubten die Bewertung, dass die Tätigkeit der zwölf Rechtsanwälte als abhängige Beschäftigung einzuordnen war. Die festgestellte Weisungsgebundenheit der Rechtsanwälte ging deutlich über das sich aus Sachgegebenheiten und -zwängen ergebende Maß hinaus. Zutreffend hat das Landgericht insoweit in seine Wertung eingestellt, dass dem angeklagten Kanzleiinhaber hinsichtlich aller zwölf Rechtsanwälte ein von ihm ausgeübtes Weisungsrecht zustand, mit dem er Arbeitszeiten, Ort sowie Art und Inhalt der Tätigkeit der Rechtsanwälte bestimmen konnte. Etwa legte der angeklagte Kanzleiinhaber konkret fest, dass die Rechtsanwälte, sofern nicht durch Gerichts- oder Mandantentermine verhindert, während des Kanzleibetriebs vor Ort sein mussten, sie ihre Abwesenheiten einzutragen hatten und ihre Urlaubszeiten mit ihm abstimmen mussten. Er entschied zudem, wer welche Termine wahrzunehmen hatte. Zutreffend hat das Landgericht auch in den Blick genommen, dass der angeklagte Kanzleiinhaber nicht nur Erwartungen äußerte, sondern an die Einhaltung der Anwesenheitspflicht anlassbezogen erinnerte und Fehlzeiten beanstandete und mithin im Ergebnis Weisungen erteilte.
Weitergehend konnte das Landgericht seine Wertung im Ergebnis auch auf die Eingliederung der zwölf Rechtsanwälte in den Kanzleibetrieb stützen und insoweit auf die Vorgaben des angeklagten Kanzleiinhabers abstellen, nach der diese während der regulären Bürozeiten grundsätzlich anwesend zu sein hatten. Entgegen der Wertung des Landgerichts indiziert zwar der Umstand, dass die Rechtsanwälte ohne Kostenbeteiligung in den Kanzleiräumlichkeiten ein eigenes Büro gestellt bekamen, die bereits aufgebaute Kanzleiinfrastruktur nutzen und sich namentlich des kanzleieigenen Personals bedienen konnten, für sich genommen nicht eine Eingliederung in die Kanzlei. Denn auch freie Mitarbeiter müssen sich der sachlichen und personellen Ausstattung der Kanzlei bedienen können, ohne dabei, wie in der in § 59q Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) geregelte Bürogemeinschaft von Rechtsanwälten üblich, an den Kosten beteiligt zu werden. Auch soweit das Landgericht ergänzend darauf abgestellt hat, dass sich eine Eingliederung aus der Zuteilung der Mandate über das Sekretariat nach den Fachgebieten der Rechtsanwälte ergebe, war darin kein zwingendes Indiz für eine abhängige Beschäftigung zu sehen; denn die Zuweisung eines bestimmten Auftrags durch den Auftraggeber kann gleichfalls Teil der selbständigen Berufsausübung sein. Jedoch hat das Landgericht die vorgenannten Aspekte nicht isoliert bewertet, sondern zu den Gesamtumständen in Beziehung gesetzt. Insbesondere unter ergänzender Berücksichtigung der vom Landgericht festgestellten und vom angeklagten Kanzleiinhaher eingeforderten Anwesenheitszeiten begegnet die tatrichterliche Gesamtabwägung nach alledem keinen durchgreifenden Bedenken.
Vor allem durfte das Landgericht seine Wertung rechtsfehlerfrei mit dem für die höheren Dienste zentralen Kriterium des Unternehmerrisikos, das hier fehlte, und der Art der Vergütung begründen. Es hat zutreffend insoweit darauf abgestellt, dass der angeklagte Kanzleiinhaber den Rechtsanwälten für ihre volle Arbeitskraft faktisch ein festes Jahresgehalt auszahlte, dessen Höhe gänzlich unabhängig vom Gewinn und Verlust der Kanzlei und – insbesondere – der von ihnen erbrachten Arbeitsleistung war. Weder hatten die Rechtsanwälte eigenes Kapital noch die eigene Arbeitskraft mit der Gefahr des Verlustes einzusetzen, so dass es an den maßgeblichen Kriterien für ein unternehmerisches Risiko fehlte. Dass das Landgericht aus dem Fehlen eigenen Unternehmerrisikos und der fest vereinbarten Vergütung mögliche Rückschlüsse auf die rechtliche Natur des Arbeitseinsatzes als abhängige Beschäftigung gezogen hat, war rechtlich zutreffend und auch geboten, zumal es den Rechtsanwälten nach den Feststellungen zeitlich nicht möglich war, für andere Auftraggeber tätig zu sein. Die bloße Möglichkeit der Kündigung der geschlossenen Verträge durch den angeklagten Kanzleiinhaber führt – genauso wenig wie bei anderen Arbeitnehmern – nicht dazu, dass diese ein unternehmerisches Risiko tragen.
Zu Recht hat das Landgericht angenommen, dass die von den vermeintlich freiwillig gesetzlich versicherten Rechtsanwälten gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit des § 266a Abs. 1 StGB ausschließen, sondern erst auf der Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Bei § 266a Abs. 1 StGB handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt; das tatbestandsmäßige Verhalten erschöpft sich in der bloßen Nichterfüllung eines Handlungsgebots bei Handlungsfähigkeit, ohne dass ein darüberhinausgehender Erfolg eintreten muss. Das Vorenthalten im Sinne des § 266a Abs. 1 StGB ist mit der schlichten Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen erfüllt.
Urteil des Bundesgerichtshofs vom 08.03.2023
Aktenzeichen: 1 StR 188/22