Behandelnde Ärztin kann bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit als Zeugin aussagen
Noch am selben Tag teilte die Mitarbeiterin dem Arbeitgeber telefonisch mit, dass sie erkrankt sei und legte in der Folge eine unterzeichnete ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 22.05. bis 15.06.2023 vor. Mit Schreiben vom 02.06.2023 teilte der Arbeitgeber der Mitarbeiterin mit, dass aufgrund der „zeitlichen Nähe von Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ und dem zuvor bekundeten Urlaubswunsch der Mitarbeiterin „ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit gegeben“ seien. Der Arbeitgeber kündigte zugleich an, er werde die „Vergütung für den betreffenden Zeitraum einbehalten“. Die Mitarbeiterin klagte auf Entgeltfortzahlung.
Das Arbeitsgericht gab der auf Zahlung von 2.110 EUR brutto gerichteten Klage statt.
Der Mitarbeiterin stand aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG gegen den Arbeitgeber für den Zeitraum vom 22.05.2023 bis 15.06.2023 ein Zahlungsanspruch zu. Die Mitarbeiterin war in dem Zeitraum durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an ihrer Arbeitsleistung verhindert, ohne dass sie ein Verschulden traf.
Vom Vorliegen einer entsprechenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit konnte zwar nicht bereits aufgrund der ärztlichen Bescheinigung vom 22.05.2023 ausgegangen werden, denn es lagen durchaus Umstände vor, die Zweifel an einer Erkrankung der Mitarbeiterin wecken konnten. Die (unverschuldete) krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit der Mitarbeiterin im streitgegenständlichen Zeitraum stand aber aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme gem. § 46 Abs. 2 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) i.V.m. § 286 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zur Überzeugung des Gerichts fest. Gelingt es dem Arbeitgeber im Prozess um Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG den Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeit zu erschüttern, kann bei dahingehendem Beweisantritt des Arbeitnehmers die Vernehmung des behandelnden Arztes als sachverständiger Zeuge geboten sein.
Auch im Rahmen der Vernehmung des behandelnden Arztes als Zeugen darf sich die Beweiswürdigung des Tatrichters indes nicht in Widerspruch zu der Ausgangsüberlegung setzen, wonach einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zukommt. Daher darf das Gericht von der Richtigkeit der ärztlichen Diagnose ausgehen, sofern es sich von einer pflichtgemäß erfolgten Diagnosestellung überzeugt. Zu diesem Zweck können wiederum die Vorgaben der vom Gemeinsamen Bundesausschuss herausgegebenen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) herangezogen werden.
Für die richterliche Überzeugungsbildung gelten hiernach folgende Maßstäbe:
a) Das Gericht muss die Überzeugung davon gewinnen, dass der Feststellung der streitigen Arbeitsunfähigkeit überhaupt eine ärztliche Untersuchung vorangegangen ist, die in der Regel unmittelbar persönlich erfolgt sein muss. Insofern kann aufgrund des oft hohen Patientenandrangs in Arztpraxen schon eine Untersuchungszeit von wenigen Minuten genügen.
b) Je nach Art der diagnostizierten Erkrankung muss das Gericht sich zudem davon überzeugen, dass der Arzt den körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustand des Arbeitnehmers bei der Diagnosestellung berücksichtigt hat. Es muss insbesondere ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung um ein „Gefälligkeitsattest“ handelt, dessen Vorlage dem Arbeitnehmer lediglich einen Weg eröffnen sollte, der Arbeit mit formaler „Entschuldigung“ fernzubleiben.
c) Die Beweisaufnahme muss dem Gericht ferner die hinreichende Gewissheit hinsichtlich einer durch die festgestellte Erkrankung hervorgerufenen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers vermitteln. Die Vernehmung muss insoweit erkennen lassen, dass auch der Arzt die Notwendigkeit eines entsprechenden Ursachenzusammenhangs erkannt und er die Ursächlichkeit bezogen auf die vom Arbeitnehmer konkret auszuübende Tätigkeit aufgrund hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte bejaht hat. Der ärztlichen Diagnose muss daher regelmäßig eine Befragung des Arbeitnehmers zur ausgeübten Tätigkeit sowie den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen vorausgegangen sein, wobei die insoweit gewonnenen Erkenntnisse vom Arzt bei der Festlegung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt worden sein müssen.
Die Ärztin hatte hier zur Überzeugung des Gerichts festgestellt, dass es bei einer Erschöpfungsdepression – wie bei der Mitarbeiterin – nicht unüblich sei, dass die Bescheinigung sogar für vier Wochen ausgestellt wird. Dass die Ausstellung hier für einen kürzeren Zeitraum als vier Wochen erfolgt war, konnte sie ebenfalls nachvollziehbar erklären.