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Dr. Christopher von HarbouRechtsnews Beginn des Kündigungsverbots bei Schwangerschaft

Beginn des Kündigungsverbots bei Schwangerschaft

Das Verbot der Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG) beginnt 280 Tage vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin.

Eine Arbeitgeberin hatte einer seit Oktober 2020 beschäftigten Mitarbeiterin ordentlich gekündigt. Das Kündigungsscheiben war der Mitarbeiterin  am 07.11.2020 zugegangen. Am 12.11.2020 legte die Mitarbeiterin beim Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage ein, mit der sie u.a. die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritt.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 02.12.2020, der am Folgetag beim Arbeitsgericht einging, teilte die Mitarbeiterin mit, in der sechsten Woche schwanger zu sein. De Schriftsatz war eine Schwangerschaftsbestätigung der Frauenärztin vom 26.11.2020 beigefügt. Die Mitarbeiterin legte im Verlauf des Gerichtsverfahrens eine weitere Schwangerschaftsbescheinigung vor, in welcher der voraussichtliche Geburtstermin mit dem 05.08.2021 angegeben wurde.

Die Mitarbeiterin hielt die Kündigung wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG für unwirksam, da sie sei zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 07.11.2020 bereits schwanger gewesen sei. Von der Schwangerschaft habe sie erst am 26.11.2020 sichere Kenntnis erhalten. Die verspätete Mitteilung an die Arbeitgeberin sei unverschuldet und unverzüglich nach ihrer – der Mitarbeiterin – Kenntnis erfolgt.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht wiesen die Klage ab. Die Kündigung sei nicht wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG unwirksam, da bei der Mitarbeiterin zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 07.11.2020 keine Schwangerschaft vorgelegen habe. Die Revision der Mitarbeiterin beim Bundesarbeitsgericht hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.

Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 MuSchG ist die Kündigung gegenüber einer Frau während ihrer Schwangerschaft unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwangerschaft bekannt ist oder wenn sie ihm innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die Mitarbeiterin könne sich nicht auf das Kündigungsverbot aus § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG berufen, da bei ihr zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 07.11.2020 keine Schwangerschaft vorgelegen habe. Das Bestehen einer Schwangerschaft und damit der Beginn des Kündigungsverbots werde bei natürlicher Empfängnis ausgehend von dem ärztlich festgestellten mutmaßlichen Entbindungstermin entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 26.03.2015, Az. 2 AZR 237/14) nicht durch eine Rückrechnung eines Zeitraums von 280 Tagen, sondern lediglich von 266 Tagen bestimmt. Abzustellen sei – so das Landesarbeitsgericht – nicht auf die äußerste zeitliche Grenze für den möglichen Beginn einer Schwangerschaft (280 Tage), sondern nur auf die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer (266 Tage).

Das Bundesarbeitsgericht sah sich nicht veranlasst, seine ständige Rechtsprechung zu ändern. Die Auffassung der Vorinstanzen berücksichtigt nur ungenügend die sich aus dem Unionsrecht und aus nationalem Verfassungsrecht ergebenden Vorgaben.

Der Zeitpunkt für den Beginn des Kündigungsverbots während einer Schwangerschaft ist weder im Unionsrecht noch im MuSchG näher definiert. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wird der Beginn des Kündigungsverbots aus § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG bei natürlicher Empfängnis in entsprechender Anwendung von § 15 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 MuSchG in der Weise bestimmt, dass von dem ärztlich festgestellten mutmaßlichen Tag der Entbindung um 280 Tage zurückgerechnet wird. Dieser Zeitraum umfasst die mittlere Schwangerschaftsdauer, die bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus zehn Lunarmonate zu je 28 Tagen – gerechnet vom ersten Tag der letzten Regelblutung an – beträgt. Er markiert die äußerste zeitliche Grenze, innerhalb derer bei normalem Zyklus eine Schwangerschaft vorliegen kann. Damit werden auch Tage einbezogen, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich ist. Insoweit geht es nicht um die Bestimmung des tatsächlichen – naturwissenschaftlichen – Beginns der Schwangerschaft im konkreten Fall, sondern um eine Berechnungsmethode für die Bestimmung des Kündigungsverbots wegen Schwangerschaft, der prognostische Elemente innewohnen und die am verfassungsrechtlich gebotenen Schutzauftrag orientiert ist. Diese Auslegung von § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MuSchG steht in Einklang mit Unionsrecht und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union.

Diese Vorgaben berücksichtigt die vom Bundesarbeitsgericht angewandte Berechnungsmethode von 280 Tagen vor dem mutmaßlichen Tag der Entbindung. Der Zeitraum stellt die äußerste zeitliche Grenze dar, innerhalb derer bei normalem Zyklus eine Schwangerschaft vorliegen kann. Das Bundesarbeitsgerichts verzichtet bewusst auf eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, um zu gewährleisten, dass jede tatsächlich Schwangere den Schutz des § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG in Anspruch nehmen kann. Da sich – sofern nicht ausnahmsweise der Tag der Konzeption zweifelsfrei feststeht – Fehler und Ungenauigkeiten nicht vermeiden lassen, ist es geboten, zunächst von der der Arbeitnehmerin günstigsten Berechnungsmethode auszugehen. Dabei werden zwar auch Tage einbezogen, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich, aber eben nicht generell ausgeschlossen ist. Nur diese Betrachtungsweise erstreckt den Beginn des Kündigungsverbots auf den „frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft“, während die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, wonach die „durchschnittliche“ Dauer einer Schwangerschaft von 266 Tagen maßgeblich sein soll, in Kauf nimmt, dass Arbeitsverhältnisse von schwangeren Arbeitnehmerinnen, bei denen die Konzeption bereits zu einem vor dem 266. Tag liegenden Zeitpunkt erfolgt ist, nicht vom Kündigungsverbot erfasst würden. Das wäre mit dem von der Mutterschutzrichtlinie gewollten und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gebotenen umfassenden Schutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen nicht zu vereinbaren.

Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24.11.2022

Aktenzeichen: 2 AZR 11/22