Bahnreisezeiten als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes
Die Arbeitgeberin betreibt ein Speditionsunternehmen, das auf die Überführung von neuen und gebrauchten Nutzfahrzeugen, u.a. Sattelzugmaschinen, spezialisiert ist. In der Fahrzeugüberführung setzt die Arbeitgeberin neben weiteren Fahrern, die nicht aufgrund eines Arbeitsvertrages tätig werden, neun festangestellte Arbeitnehmer ein. Diese fahren von ihrem Wohnort mit Taxi und Bahn zum jeweiligen Abholort des Fahrzeugs, übernehmen dieses und fahren das Fahrzeug anschließend auf der eigenen Achse zum Zielort. Von dort reisen sie wiederum mit der Bahn zurück zum Wohnort. Soweit es sich um noch nicht erstmalig zugelassene Neufahrzeuge handelt, werden hierfür Überführungskennzeichen genutzt. Für die Bahnfahrt verfügen die Angestellten der Arbeitgeberin über eine BahnCard 100 in der 1. Klasse. Sie müssen die Überführungspapiere, ein Firmenhandy, Schutzbezüge zur Nutzung im Überführungsfahrzeug sowie ausweislich eines von der Arbeitgeberin vorgelegten Gutachtens vom 06.04.2023 eine mobile Mautbox mit sich führen. Vorgaben der Arbeitgeberin, wie sie die Zeit während der Bahnfahrt einteilen und nutzen, bestehen nicht. Die vorgelegten Arbeitsverträge enthalten unter anderem folgende Regelungen:
„§ 5 Arbeitszeit und Arbeitsort
Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40 Stunden. Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit werden durch die Disposition des Arbeitgebers bestimmt. …
Ruhe-, Warte- und Bereitschaftszeiten sowie sogenannte Zeiten nicht zur freien Verfügung (z.B. Beifahrer als Doppelbesetzung, wenn keine firmenrelevanten Tätigkeiten ausgeführt werden müssen), gelten nicht als Arbeitszeit. Das gleiche gilt für An- und Abreisezeiten sowie Zeiten als Mitfahrer….“
Aufgrund einer Systemprüfung durch die Behörde im Betrieb der Arbeitgeberin am 29.08.2018 wurden auf Anforderung Unterlagen für sieben Kraftfahrer vorgelegt. Zur Beurteilung der Arbeitszeiten forderte die Behörde die Vorlage vorhandener handschriftlicher Arbeitszeitaufzeichnungen an. Diese wurden von der Arbeitgeberin nicht vorgelegt, da sie nach ihren Angaben allein der Spesenerfassung dienten. Die Arbeitgeberin gab an, dass sie keine expliziten Aufzeichnungen der Fahrer über die tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten führe. Ihrer Ansicht nach gelte die Reisezeit bis zum Abholort bzw. ab dem Zielort nach Beendigung des Auftrags nicht als Arbeitszeit.
Die Behörde erließ in der Folgezeit die feststellende Entscheidung, dass die im Betrieb gegebenen Bahnreisezeiten der in der Fahrzeugüberführung tätigen Kraftfahrer als Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitgesetzes zu berücksichtigen sind. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob die Arbeitgeberin Klage gegen den Bescheid, die das Verwaltungsgericht nun zurückgewiesen hat.
Rechtsgrundlage der Verfügung des streitgegenständlichen Bescheides ist § 17 Abs. 2 ArbZG. Danach kann die Aufsichtsbehörde die erforderlichen Maßnahmen anordnen, die der Arbeitgeber zur Erfüllung der sich aus diesem Gesetz und den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ergebenden Pflichten zu treffen hat. Die Norm ist in zulässiger Weise Grundlage für eine Verfügung, die – wie hier – anordnet, dass der Arbeitgeber sicherzustellen hat, dass die in § 3 ArbZG genannten zulässigen Höchstarbeitszeiten und die in § 5 ArbZG genannten Mindestruhezeiten eingehalten werden. Dies gilt auch für eine – wie hier – feststellende Entscheidung, dass bestimmte Zeiten, die der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der ausgeübten Beschäftigung verbringt, als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes anzusehen sind.
Die von den Arbeitnehmern bei der Überführung von Neufahrzeugen bis zur Übernahme der Fahrzeuge und nach der Abgabe am Zielort als Bahnreise zurückgelegten Reise- oder Wegezeiten sind nach Maßgabe dieser allgemeinen arbeitszeitrechtlichen Vorschriften als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes anzusehen.
Als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes gilt nach § 2 Abs. 1 Satz 1, 1. Hs. ArbZG die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Hiernach sind die Bahnreisezeiten der Arbeitnehmer der Klägerin zur Übernahme des jeweiligen Fahrzeuges als Arbeitszeit anzusehen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) richtet sich die Einstufung von Reisezeit als Arbeitszeit nach der sog. Beanspruchungstheorie (vgl. BAG, Urt. v. 11.07.2006, Az. 9 AZR 519/05). Mit der fraglichen Tätigkeit müsse eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung einhergehen (vgl. BAG, Urt. v. 18.01.2017, Az. 7 AZR 224/15). Bei Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels ist – wenn keine weiteren Aufgaben für den Arbeitgeber ausgeführt werden, sondern die Zeit während der Fahrt für Schlafen, privates Lesen etc. verwendet werden kann – die Reisezeit arbeitszeitrechtlich nicht als Arbeitszeit einzustufen, da der Arbeitnehmer währenddessen nicht maßgeblich beansprucht wird. Gesundheit und Sicherheit des Arbeitnehmers sind durch ein Überschreiten der täglich zulässigen Höchstarbeitszeit nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts in diesem Fall nicht gefährdet, da es dem Arbeitnehmer auch freistehe, private Angelegenheiten zu erledigen; Dösen und Schlafen seien ebenso gestattet wie die Einnahme von Getränken oder Speisen.
Nach Maßgabe dessen wären die Reisezeiten der Fahrer im vorliegenden Fall – entsprechend der Argumentation der Arbeitgeberin – nicht als Arbeitszeit einzustufen. Die Fahrer müssen zwar auf die mitgeführten Gegenstände achten, ihre Beanspruchung beschränkt sich im Übrigen aber auf den Ablauf der Fahrt sowie die Einhaltung etwaiger Umsteigezeiten. Es steht ihnen frei, während der Fahrt zu schlafen, zu essen, zu trinken oder private Angelegenheiten zu erledigen, soweit dies in einem Zug oder anderen öffentlichen Verkehrsmittel möglich ist.
Dass gerade Reisen in öffentlichen Verkehrsmitteln – was gerichtsbekannt ist – auch Belastungen durch Verspätungen, gerade im Fernreiseverkehr, erhöhte Auslastung, Geräuschbelastungen etc. mit sich bringen, denen sich der Betreffende auch nicht entziehen kann, bliebe dabei unberücksichtigt bzw. wiegt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts jedenfalls nicht so schwer, dass in jedem Fall eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung angenommen werden kann.
Jedoch gebieten die europarechtlichen Regelungen eine von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im vorliegenden Fall abweichende Betrachtung. Nach Art. 2 Nr. 1 der Arbeitszeitrichtlinie ist Arbeitszeit jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und / oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Der Begriff der Arbeitszeit steht dabei im Gegensatz zur Ruhezeit, beide Begriffe schließen einander aus (Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 10.09.2015, Az. C-266/14).
Nach Maßgabe des Art. 2 Nr. 1 der Arbeitszeitrichtlinie handelt es sich bei den Bahnreisezeiten eines angestellten Fahrers der Arbeitgeberin im Rahmen der Neufahrzeugüberführung um Arbeitszeit.