Aussetzung des Verfahrens zur Überprüfung des Sanktionssystems für Fehler bei Massenentlassungsanzeige
Der Insolvenzverwalter war der Auffassung, einer entsprechenden Anzeige habe es nicht bedurft. Das Tatbestandsmerkmal „in der Regel“ stelle auf den Zeitpunkt der Entlassung und damit auf einen Stichtag ab. Die BAG-Rechtsprechung zur Ermittlung der personellen Betriebsstärke sei unionsrechtswidrig. Zum maßgeblichen Stichtag seien bei der Arbeitgeberin aufgrund von Aufhebungsverträgen und Eigenkündigungen weniger als 21 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Das Landesarbeitsgericht hatte die Kündigung aufgrund der fehlenden Massenentlassungsanzeige für unwirksam erklärt und der Kündigungsschutzklage stattgegeben.
Das Bundesarbeitsgericht hat das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache mit dem Aktenzeichen: C-134/22 (Vorabentscheidungsersuchen des Sechsten Senats des BAG vom 27.01.2022, Az. 6 AZR 155/21 (A)) ausgesetzt.
Hat ein Arbeitgeber die Betriebsgröße falsch beurteilt und deshalb keine Massenentlassungsanzeige erstattet, ist jedoch derzeit unklar, ob dies – wie vom BAG in ständiger Rechtsprechung seit 2012 angenommen – weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem steht möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, und könnte darum unverhältnismäßig sein.
Vor dem Hintergrund der Erwägungen des Generalanwalts in seinen am 30.03.2023 in der Rechtssache mit dem Aktenzeichen: C-134/22 verkündeten Schlussanträgen zum Verhältnis von Anzeige- und Konsultationsverfahren zueinander hat der Senat nach Anhörung der Parteien den vorliegenden Rechtsstreit bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen in entsprechender Anwendung des § 148 Zivilprozessordnung (ZPO) ausgesetzt, um auf der rechtlichen Grundlage der zu erwartenden Entscheidung die Sanktionen bei Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG bestimmen zu können.