Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Arbeitsunfähigkeit während einer Altersteilzeitregelung
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des EU-Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung i.V.m. Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der EU ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung (hier: § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz – BUrlG) entgegensteht, die vorsieht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer durch die Ausübung seiner Arbeit im Rahmen einer Altersteilzeitregelung erworben hat, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt, wenn der Arbeitnehmer vor der Freistellungphase wegen Krankheit daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, und zwar auch dann, wenn es sich nicht um eine lange Abwesenheit handelt.
Ein Mitarbeiter war von 1986 bis Ende September 2019 bei den Bayerischen Motoren Werken beschäftigt und befindet sich seit Oktober 2019 in Rente. Ende 2012 waren beide Parteien übereingekommen, das Arbeitsverhältnis in ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis zu ändern. Danach sollte der Mitarbeiter vom 01.02.2013 bis zum 31.05.2016 arbeiten und vom 01.06.2016 bis zum 30.09.2019 freigestellt werden. Der Mitarbeiter nahm vom 04.05. bis zum 25.05.2016 Urlaub, um seinen Resturlaub für das Jahr 2016 vollständig einzubringen. Aufgrund einer Erkrankung während dieser Zeit konnte er vor Ende Mai 2016 jedoch 2 2/3 der Urlaubstage nicht nehmen. Im Jahr 2019 klagte er auf Abgeltung nicht genommener Urlaubstage und machte insoweit geltend, dass er diese Urlaubstage krankheitsbedingt nicht habe nehmen können.
Das Arbeitsgericht hatte die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Urlaubsanspruch für das Jahr 2016 am 31.03.2017 um Mitternacht verfallen sei. Der Umstand, dass die Arbeitgeberin den Mitarbeiter nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen hätten, seinen Urlaub vollständig zu nehmen, sei unerheblich, da dies aufgrund der Freistellung des Mitarbeiters ab Juni 2016 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses unmöglich gewesen sei. Das Landesarbeitsgericht hatte die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.
Auf die Revision des Mitarbeiters hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des EU-Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der EU (Charta) betrafen. Mit seiner ersten Frage wollte das BAG im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Bestimmung (hier: § 7 Abs. 3 BUrlG) entgegensteht, nach der bezahlte Jahresurlaubstage, die während der im Rahmen der Altersteilzeitregelung geleisteten Arbeitsphase erworben, aber nicht genommen wurden, erlöschen können, da sie im Freistellungszeitraum nicht genommen werden können.
Der EuGH hat diese Frage bejaht.
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG i.V.m. Art. 31 Abs. 2 der Charta ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung (hier: § 7 Abs. 3 BUrlG) entgegensteht, die vorsieht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer durch die Ausübung seiner Arbeit im Rahmen einer Altersteilzeitregelung erworben hat, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt, wenn der Arbeitnehmer vor der Freistellungphase wegen Krankheit daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, und zwar auch dann, wenn es sich nicht um eine lange Abwesenheit handelt.
Umstände wie im Ausgangsverfahren können keine Abweichung von dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 aufgestellten Grundsatz rechtfertigen, wonach ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen. Hierzu war erstens festzustellen, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um eine lange Abwesenheit aus gesundheitlichen Gründen oder um eine solche Abwesenheit während mehrerer Bezugszeiträume in Folge handelt, sondern um einen sehr begrenzten Zeitraum von 2 2/3 Tagen.
Zweitens ergab sich die Unmöglichkeit, den erworbenen Urlaub vollständig zu nehmen, nicht aus einer längeren krankheitsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers, wie es in der Rechtssache der Fall war, in der das Urteil vom 22.11.2011, KHS (Aktenezeichen: C‑214/10, EU:C:2011:761), ergangen ist, sondern daraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer von der Arbeit freigestellt hatte.
Drittens ist die Abwesenheit eines Arbeitnehmers aus gesundheitlichen Gründen für den Arbeitgeber zwar nicht vorhersehbar, doch ist der Umstand, dass eine solche Abwesenheit den Arbeitnehmer gegebenenfalls daran hindern kann, seinen Anspruch auf Jahresurlaub auszuschöpfen, wenn es sich um ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis handelt, normalerweise nicht unvorhersehbar. Der Arbeitgeber ist nämlich in der Lage, ein solches Risiko auszuschließen oder zu verringern, indem er mit dem Arbeitnehmer vereinbart, dass dieser seinen Urlaub rechtzeitig nimmt.
Viertens stellt der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als tragender Grundsatz des Sozialrechts der Union dar, während der andere Aspekt die finanzielle Vergütung ist, die dem Arbeitnehmer zusteht, wenn er aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in der Lage ist, seinen Urlaub zu nehmen. Einem Arbeitnehmer, der in einer Situation wie hier aufgrund eines unvorhergesehenen Umstands wie Krankheit daran gehindert war, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, jeglichen Anspruch auf eine solche finanzielle Vergütung zu versagen, liefe jedoch darauf hinaus, dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 i.V.m. Art. 31 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Recht seinen Gehalt zu nehmen.
Die zweite Frage war für den Fall gestellt worden, dass die erste Frage verneint würde. Aufgrund der Antwort auf die erste Frage brauchte die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.04.2023
Aktenzeichen: C‑192/22