Beweiswert von ärztlichen AU-Bescheinigungen im gekündigten Arbeitsverhältnis
Laut ärztlichen Bescheinigungen war der Mitarbeiter in der Zeit von Oktober 2022 bis Anfang Dezember 2022 sechs Mal arbeitsunfähig erkrankt, zuletzt vom 05.12.2022 bis zum 09.12.2022. Am 09.12.2022 kündigte er das Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 15.01.2023. Das Kündigungsschreiben übergab er dem Betriebsleiter am Montag, dem 12.12.2022 persönlich. Am folgenden Tag wurde der Mitarbeiter bis zum 06.01.2023 mit den Diagnosen Anpassungsstörungen und Somatoforme Störung erneut krankgeschrieben. Der Arzt verschrieb ihm zudem Medikamente überwies ihn an einen Psychiater. Der Mitarbeiter beschaffte sich jedoch weder die Medikamente noch suchte er einen Facharzt auf. Am 02.01.2023 stellte ihm sein Hausarzt eine Folgebescheinigung bis zum 16.01.2023 aus. An diesem Tag trat der Mitarbeiter eine neue Beschäftigung im Lebensmitteleinzelhandel an.
Die Arbeitgeberin zweifelte die ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen an und zahlte dem Mitarbeiter keine Entgeltfortzahlung wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit für die Zeit ab dem 13.12.2022. Der Mitarbeiter war der Ansicht, dass ihm Entgeltfortzahlung für die Zeit ab 13.12.2022 zustehe. Die Arbeit bei der Arbeitgeberin sei körperlich schwer und zudem im Schichtdienst zu leisten gewesen. Er habe in der letzten Zeit annähernd 20% seines Körpergewichts verloren, an Schlafstörungen, Magenbeschwerden, Schwindel und Atembeschwerden gelitten. Er klagte auf die Enthgeltfortzahlung.
Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG). Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG. Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 292 der Zivilprozessordnung (ZPO) mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre.
Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist regelmäßig erschüttert, wenn ein Arbeitnehmer unmittelbar nach einer Eigen- oder Arbeitgeberkündigung Bescheinigungen einreicht, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken. Ist der Beweiswert erschüttert, hat der Arbeitnehmer darzulegen und ggf. zu beweisen, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Dabei kann es von Bedeutung sein, ob und ggf. welche Vorerkrankungen vorhanden sind und in welchem Umfang ärztliche Anordnungen von dem Arbeitnehmer befolgt werden.
Die vom Kläger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen waren nicht geeignet, eine Arbeitsunfähigkeit zu beweisen. Der Beweiswert war erschüttert, da sie passgenau den Zeitraum der Kündigungsfrist abdeckten. Die vom behandelnden Arzt verordneten Medikamente und die Überweisung an einen Psychiater ließen zwar darauf schließen, dass dieser die Erkrankung als schwerwiegend eingeschätzt hatte. Dass der Mitarbeiter die Medikamente ohne Rücksprache mit dem Arzt nicht eingenommen und unabhängig davon auch nicht einen – ggf. längerfristigen – Termin bei einem Facharzt vereinbart hatte, weckte hingegen Zweifel an einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Diese Zweifel konnte der Mitarbeiter auch nicht ausräumen.