Rechtsfolgen von Fehlern im Anzeigeverfahren bei Massenentlassung
1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
Sofern die erste Frage bejaht wird:
2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
Im zugrundeliegenden Fall streiten die Parteien noch darüber, ob eine betriebsbedingte Kündigung nichtig ist, weil der Insolvenzverwalter die erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht erstattet hat.
Der Mitarbeiter war seit 1994 bei der V Handelsgesellschaft mbH tätig, bei der kein Betriebsrat gebildet war. Über das Vermögen der Arbeitgeberin wurde am 01.12.2020 das Insolvenzverfahren eröffnet und einen Insolvenzverwalter bestellt. Zwischen dem 12.11.2020 und dem 29.12.2020 beendete dieser durch Kündigungen oder den Abschluss von Aufhebungsverträgen sämtliche im Oktober 2020 noch bestehenden 22 Arbeitsverhältnisse der Arbeitgeberin. Das Arbeitsverhältnis des betreffenden Mitarbeiters kündigte der Insolvenzverwalter mit einem am 08.12.2020 zugegangenen Schreiben vom 02.12.2020 zum 31.03.2021. Im 30-Tage-Zeitraum hatte er dabei mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen. Eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG hatte er zuvor nicht erstattet. Das Arbeitsverhältnis des Mitarbeiter wurde aufgrund einer späteren Kündigung zum 31.07.2021 beendet.
Mit seiner fristgerecht erhobenen Kündigungsschutzklage macht der Mitarbeiter geltend, die Kündigung vom 02.12.2020 sei nichtig, weil es an der zuvor erforderlichen Massenentlassungsanzeige durch den Insolvenzverwalter fehle.
Der Insolvenzverwalter hat, wie der Sechste Senat des BAG bereits festgestellt hat, gegen seine aus § 17 Abs. 1 KSchG folgende Verpflichtung verstoßen, eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Nach Auffassung des Sechsten Senats ist die Sanktion für diesen Fehler ebenso wie für alle anderen denkbaren Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren nicht die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB. Die für derartige Fehler gebotene Sanktion muss vielmehr vom Gesetzgeber bestimmt werden. Der Senat sieht sich an einer solchen Entscheidung jedoch durch die Entscheidung des Zweiten Senats des BAG zur Nichtigkeitsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren (Urteil des BAG vom 22.11.2012, Az. 2 AZR 371/11) gehindert.
An den Zweiten Senat des BAG wurde deshalb mit Beschluss vom 14.12.2023 gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG folgende Anfrage gerichtet:
Wird an der seit dem Urteil vom 22.11.2012 (Az. 2 AZR 371/11) vertretenen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot iSd. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt?
Der Zweite Senat hat daraufhin wie oben beschrieben den EuGH angerufen.
Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 01.02.2024
Aktenzeichen: 2 AS 22/23 (A)