Kündigung wegen Vorlage einer „vorläufigen Impfunfähigkeits-Bescheinigung“ aus dem Internet
Die Arbeitgeberin betreibt ein Pflegeheim. Die Mitarbeiterin war dort als Pflegeassistentin beschäftigt. Sie ist nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft. Da sie in einer Pflegeeinrichtung tätig ist, war die Mitarbeiterin gemäß § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG verpflichtet, einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis, ein ärztliches Zeugnis über die Schwangerschaft oder ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft werden kann, bis zum 15.03.2022 vorzulegen.
Die Mitarbeiterin erhielt über eine Webseite, nachdem sie die dort formularmäßig gestellte Frage verneinte, ob sie ausschließen könne, gegen einen der Bestandteile der Inhalts- oder Hilfsstoffe des ausgewählten Impfstoffes allergisch zu sein, u.a. eine Bescheinigung über die vorläufige Impfunfähigkeit sowie ein Anschreiben zur Vorlage beim Arbeitgeber, welche sie der Arbeitgeberin vorlegte. Beide Dokumente waren von Dr. E. unter deren Postadresse in G ausgestellt und konnten von der Mitarbeiterin aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt werden.
Das Anschreiben zur Vorlage beim Arbeitgeber lautete:
„Vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung gem. § 20 IfSG
Dr. med. E.“
Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage statt. Auch das Landesarbeitsgericht sah in der Berufungsinstanz die Kündigung als unwirksam an. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Die Kündigung war rechtsunwirksam, da der gem. § 626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erforderliche wichtige Grund nicht vorlag. Zugunsten der Arbeitgeberin konnte zwar angenommen werden, dass das Verhalten der Mitarbeiterin einen Kündigungsgrund „an sich“ darstellt, jedoch fällt die notwendige Interessenabwägung zugunsten der Mitarbeiterin aus.
Ein Kündigungsgrund „an sich“ kann darin liegen, dass der Arbeitnehmer unrichtige ärztliche Bescheinigungen vorlegt. Zugunsten der Arbeitgeberin konnte angenommen werden, dass auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstellt. Dies gilt insbesondere für Nachweise im Sinne des § 20a Abs. 2 S. 1 IfSG. Betreiber von Einrichtungen im Sinne des § 20a Abs. 1 IfSG sind verständlicherweise daran interessiert, den Betrieb der Einrichtung gesetzeskonform unter weitgehendem Ausschluss von gesundheitlichen Risiken für die betreuten Personen zu führen. Dieses Ziel wird durch die Vorlage irreführender Bescheinigungen nicht unerheblich erschwert.
Im Streitfall konnte der Mitarbeiterin zwar nicht der Vorwurf gemacht werden, eine „gefälschte“ Bescheinigung vorgelegt zu haben. Das Anschreiben an den Arbeitgeber vom 04.02.2022, das die Mitarbeiterin der Arbeitgeberin übergeben hatte, war nicht manipulativ hergestellt oder von der Mitarbeiterin inhaltlich verändert worden. Der Inhalt des Schreibens enthielt auch keine unrichtigen Angaben über den Gesundheitszustand der Mitarbeiterin. Aus dem Schreiben ergab sich nicht, dass die Mitarbeiterin tatsächlich impfunfähig ist. Vielmehr hieß es dort, die Mitarbeiterin könne „für sich“ eine Allergie gegen Inhaltsstoffe der Impfstoffe nicht ausschließen und erhalte zur Abklärung einer möglicherweise bestehenden Allergie eine vorübergehende Impfunfähigkeitsbescheinigung.
Jedoch war die Bescheinigung inhaltlich irreführend. Sie erweckte den Eindruck, es habe ein persönlicher Kontakt zwischen der Mitarbeiterin und der ausstellenden Ärztin bestanden und die ärztliche Stellungnahme beruhe auf den individuellen Besonderheiten der Mitarbeiterin. Der Eindruck, dass es sich um eine ärztliche Stellungnahme unter Berücksichtigung persönlicher Besonderheiten der Mitarbeiterin handele, wurde insbesondere dadurch hervorgerufen, dass die Mitarbeiterin in dem Anschreiben als „begutachtete Person“ bezeichnet wurde. Tatsächlich handelte es sich aber um eine Bescheinigung, die jedermann gleichlautend erhält, wenn er die Frage verneint, Allergien gegen Impfstoffe ausschließen zu können. Üblicherweise kommt eine ärztliche Stellungnahme über gesundheitliche Belange einer Person auf solchem Weg nicht zustande.
Die notwendige Interessenabwägung fiel aber zugunsten der Mitarbeiterin aus. Es war für die Arbeitgeberin zumutbar, das Arbeitsverhältnis weiter fortzusetzen. Die Verletzung der Rücksichtnahmepflicht beruhte auf steuerbarem Verhalten der Mitarbeitern. Zur Vermeidung künftiger Vertragsstörungen wäre der Ausspruch einer Abmahnung ausreichend gewesen.
Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 30.03.2023
Aktenzeichen: 18 Sa 1048/22