Zehnstündige Bahnfahrt lässt Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen
Am Dienstagnachmittag, 08.02.2022, sagte der Mitarbeiter die Teilnahme an einer regelmäßig stattfindenden Dienstbesprechung aus gesundheitlichen Gründen ab. Am darauffolgenden Tag meldete er sich bei der Arbeitgeberin krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Am Donnerstag, 10.02.2022, stellte die behandelnde Ärztin dem Mitarbeiter eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 09.02. bis 21.02.2022 aus. Ab dem 22.02.2022 trat der Mitarbeiter seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an. Am 01.03.2022 nahm er in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.
Die Arbeitgeberin hat die Krankschreibung des Mitarbeiters vom 09.02. bis 21.02.2022 angezweifelt und sein Gehalt einbehalten. Sie war der Ansicht, wenn er krank gewesen wäre, hätte er nicht zehn Stunden Bahn fahren können. Auffällig sei zudem das pünktliche Ende der Erkrankung zum Beginn des Urlaubs.
Der Mitarbeiter klagte auf Gehaltszahlung. Das Arbeitsgericht gab der Klage i.H.v. 5.625 EUR statt. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Arbeitgeberin zurück.
Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
Der Arbeitgeber kann allerdings den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in § 275 Abs. 1a Sozialgesetzbuch (SGB) V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt. Nach § 275 Abs. 1a SGB V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit insbesondere in Fällen anzunehmen, wenn a) Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder b) die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist jedoch nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten können auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus ist aber keinesfalls zu schließen, dass jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum makelbehaftet ist und die Arbeitsunfähigkeit vom Arbeitnehmer durch Offenlegung seiner Erkrankung, der gesundheitlichen Einschränkungen und der ärztlich verordneten Behandlung zu belegen ist. Auch die Die rund zehnstündige Bahnreise des Mitarbeiterss weckte keine Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Denn die Belastung durch die Bahnreise ist nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar.