Leiharbeit: Abweichen vom Equal-Pay-Grundsatz durch Tarifvertrag möglich
Von dem Grundsatz, dass Leiharbeitnehmer für die Dauer einer Überlassung Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers haben (equal pay), kann nach § 8 Abs. 2 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ein Tarifvertrag „nach unten“ abweichen mit der Folge, dass der Verleiher dem Leiharbeitnehmer nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen muss. Ein entsprechendes Tarifwerk hat der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) mit der Gewerkschaft ver.di geschlossen. Dieses genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG (Leiharbeits-RL).
Eine Mitarbeiterin war aufgrund eines nach § 14 Abs. 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) befristeten Arbeitsverhältnisses bei einer Arbeitgeberin, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin in Teilzeit beschäftigt. Sie war im Zeitraum Januar bis April 2017 hauptsächlich einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen und verdiente zuletzt 9,23 EUR brutto/Stunde. Sie behauptet, vergleichbare Stammarbeitnehmer erhielten einen Stundenlohn von 13,64 EUR brutto und verlangte im Klageweg unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz des § 8 Abs. 1 AÜG bzw. § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG a.F. für den Zeitraum Januar bis April 2017 Differenzvergütung i.H.v. rd. 1.300 EUR brutto.
Die Mitabeiterin meinte, das auf ihr Leiharbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit Anwendung findende Tarifwerk von iGZ und ver.di sei mit Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL und der dort verlangten Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer nicht vereinbar. Die Arbeitgeberin vertrat die Ansicht, das Tarifwerk von iGZ und ver.di verstoße nicht gegen Unionsrecht, außerdem bestritt sie die Höhe der von der Mitarbeiterin behaupteten Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihers mit Nichtwissen.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hatten die Klage abgewiesen. Hiergegen legte die Mitarbeiterin Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ein. Das BAG setzte das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen im Zusammenhang mit der von Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL verlangten, aber nicht näher definierten „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ zur Vorabentscheidung vor. Nach der Entscheidung des EuGH vom 15.12.2022 (Az. C-311/21 – TimePartner Personalmanagement) hatte die Revision der Mitarbeiterin nun vor dem BAG keinen Erfolg.
Die Mitarbeiterin hatte keinen Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt, also auf ein Arbeitsentgelt, wie es vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers erhalten. Aufgrund des wegen der beiderseitigen Tarifgebundenheit auf das Leiharbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und ver.di war die Arbeitgeberin nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG und § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG a.F. nur verpflichtet, die tarifliche Vergütung zu zahlen. Dieses Tarifwerk genügt, jedenfalls im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer, den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL. Traf der Sachvortrag der Mitarbeiterin zur Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer zu, hatte die Mitarbeiterin zwar einen Nachteil erlitten, weil sie eine geringere Vergütung erhalten hatte, als sie erhalten hätte, wenn sie unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz von dem entleihenden Unternehmen eingestellt worden wäre. Eine solche Schlechterstellung lässt aber Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolgt. Dazu müssen nach der Vorgabe des EuGH Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen. Ein möglicher Ausgleichsvorteil kann nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl bei unbefristeten als auch befristeten Leiharbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten sein. Anders als in einigen anderen europäischen Ländern sind verleihfreie Zeiten nach deutschem Recht auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen stets möglich, etwa wenn – wie im Streitfall – der Leiharbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt wird oder der Entleiher sich vertraglich ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Leiharbeitnehmer vorbehält. Das Tarifwerk von iGZ und ver.di gewährleistet die Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten.
Außerdem hat der deutsche Gesetzgeber mit § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG für den Bereich der Leiharbeit zwingend sichergestellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen, weil der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), der an sich abdingbar ist, im Leiharbeitsverhältnis nicht abbedungen werden kann. Auch hat der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Leiharbeitnehmern staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten darf. Zudem ist seit dem 01.04.2017 die Abweichung vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts nach § 8 Abs. 4 Satz 1 AÜG zeitlich grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 31.05.2023
Aktenzeichen: 5 AZR 143/19