Vereinsmitglied im Yoga Ashram ist Arbeitnehmerin
Das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kann nur von einem Verein in Anspruch genommen werden, der ein hinreichendes Maß an religiöser Systembildung und Weltdeutung aufweist. Andernfalls ist es ihm verwehrt, mit seinen Mitgliedern zu vereinbaren, außerhalb eines Arbeitsverhältnisses fremdbestimmte, weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit zu leisten, sofern diese nicht ähnlich einem Arbeitnehmer sozial geschützt sind.
Ein gemeinnütziger Verein, dessen satzungsmäßiger Zweck „die Volksbildung durch die Verbreitung des Wissens, der Lehre, der Übungen und der Techniken des Yoga und verwandter Disziplinen sowie die Förderung der Religion“ ist, betreibt zur Verwirklichung seiner Zwecke Einrichtungen, in denen Kurse, Workshops, Seminare, Veranstaltungen und Vorträge zu Yoga und verwandten Disziplinen durchgeführt werden. Dort bestehen sog. Sevaka-Gemeinschaften. Sevakas sind Vereinsangehörige, die in der indischen Ashram- und Klostertradition zusammenleben und ihr Leben ganz der Übung und Verbreitung der Yoga Vidya Lehre widmen. Sie sind aufgrund ihrer Vereinsmitgliedschaft verpflichtet, nach Weisung ihrer Vorgesetzten Sevazeit zu leisten. Gegenstand der Sevadienste sind z.B. Tätigkeiten in Küche, Haushalt, Garten, Gebäudeunterhaltung, Werbung, Buchhaltung, Boutique etc. sowie die Durchführung von Yogaunterricht und die Leitung von Seminaren. Als Leistung zur Daseinsfürsorge stellt der Verein den Sevakas Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung und zahlt ein monatliches Taschengeld i.H.v. bis zu 390,00 EUR, bei Führungsverantwortung bis zu 180,00 EUR zusätzlich. Sevakas sind gesetzlich kranken-, arbeitslosen-, renten- und pflegeversichert und erhalten eine zusätzliche Altersversorgung.
Eine Volljuristin lebte vom 01.03.2012 bis zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft bei dem Verein am 30.06.2020 als Sevaka in dessen Yoga-Ashram und leistete dort im Rahmen ihrer Sevazeit verschiedene Arbeiten. Sie hat geltend gemacht, zwischen ihr und dem Verein habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, und verlangte ab dem 01.01.2017 auf der Grundlage der vertraglichen Regelarbeitszeit von 42 Wochenstunden gesetzlichen Mindestlohn i.H.v. 46.118,54 EUR brutto.
Der Verein hat eingewendet, die Mitarbeiterin habe gemeinnützige Sevadienste als Mitglied einer hinduistischen Ashramgemeinschaft und nicht in einem Arbeitsverhältnis geleistet. Die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Grundgesetz (GG) und das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ermöglichten es, eine geistliche Lebensgemeinschaft zu schaffen, in der die Mitglieder außerhalb eines Arbeitsverhältnisses gemeinnützigen Dienst an der Gesellschaft leisteten.
Das Arbeitsgericht hatte der Zahlungsklage der Mitarbeiterin stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage auf die Berufung des Vereins abgewiesen. Die Revision der Mitarbeiterin hatte vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Nach Überzeugung des Bundesarbeitsgerichts war die Mitarbeiterin Arbeitnehmerin des Vereins und hatte für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 Satz 1 Mindestlohngesetz (MiLoG). Sie war vertraglich zu Sevadiensten und damit i.S.v. § 611a Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Der Arbeitnehmereigenschaft standen weder die besonderen Gestaltungsrechte von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften noch die Vereinsautonomie des Art. 9 Abs. 1 GG entgegen.
Der betreffende Verein ist weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft. Es fehlt das erforderliche Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung. Der Verein bezieht sich in seiner Satzung u.a. auf Weisheitslehren, Philosophien und Praktiken aus Indien und anderen östlichen und westlichen Kulturen sowie auf spirituelle Praktiken aus Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Taoismus und anderen Weltreligionen. Aufgrund dieses weit gefassten Spektrums ist ein systemisches Gesamtgefüge religiöser bzw. weltanschaulicher Elemente und deren innerer Zusammenhang mit der Yoga Vidya Lehre nicht hinreichend erkennbar.
Auch die grundgesetzlich geschützte Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) erlaubt die Erbringung fremdbestimmter, weisungsgebundener Arbeitsleistung in persönlicher Abhängigkeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses allenfalls dann, wenn zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden. Zu diesen zählt u.a. eine Vergütungszusage, die den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn garantiert, auf den Kost und Logis nicht anzurechnen sind. Denn dieser bezweckt die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).
Das Bundesarbeitsgericht konnte auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend über die Höhe des Mindestlohnanspruchs der Mitarbeiterin entscheiden und hat den Rechtsstreit deshalb an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25.04.2023
Aktenzeichen: 9 AZR 253/22