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Dr. Christopher von HarbouRechtsnews Vergütung von Leiharbeitnehmern im Vergleich zu Stammarbeitnehmern

Vergütung von Leiharbeitnehmern im Vergleich zu Stammarbeitnehmern

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass ein Tarifvertrag, der für Leiharbeitnehmer ein geringeres Arbeitsentgelt als das der unmittelbar eingestellten Arbeitnehmer festlegt, Ausgleichsvorteile vorsehen muss. Ein solcher Tarifvertrag muss außerdem einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können.

Eine Mitarbeiterin war von Januar bis April 2017 bei der TimePartner Personalmanagement GmbH, einem Leiharbeitsunternehmen, auf Grundlage eines befristeten Vertrags als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Während ihrer Überlassung wurde sie bei einem ausleihenden Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin eingesetzt. Für diese Arbeit erhielt die Mitarbeiterin nach dem Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer, den der Interessenverband, dem die Arbeitgeberin angehörte, mit der Gewerkschaft, in der sie Mitglied war, geschlossen hatte, einen Bruttostundenlohn von 9,23 EUR. Der Tarifvertrag wich von dem im deutschen Recht anerkannten Grundsatz der Gleichstellung ab, indem er für Leiharbeitnehmer ein geringeres Arbeitsentgelt vorsah als es die Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern (Deutschland) erhielten, der einen Bruttostundenlohn von 13,64 EUR vorsah.

Die Mitarbeiterin erhob Klage auf Zahlung eines zusätzlichen Arbeitsentgelte in Höhe von rund 1.300 EUR, d.h. der Differenz zwischen dem Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer und dem für vergleichbare, unmittelbar vom entleihenden Unternehmen eingestellte Arbeitnehmer. Sie macht geltend, dass ein Verstoß gegen den in Art. 5 der Richtlinie 2008/104 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung der Leiharbeitnehmer vorliege.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hatten die Klage abgewiesen. Hiergegen wandte sich die Mitarbeiterin mit ihrer Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG). Das BAG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH fünf Fragen zur Auslegung der Bestimmung des Art. 5 der Richtlinie 2008/104 zu Vorabentscheidung vor.

Der EuGH klärte mit seinem dazu ergangenen Urteil vom 15.12.2022, welche Voraussetzungen ein von den Sozialpartnern geschlossener Tarifvertrag erfüllen muss, um gem. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Leiharbeitnehmer abweichen zu können. Er erläuterte insbesondere die Tragweite des Begriffs „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“, den die Tarifverträge nach dieser Bestimmung achten müssen, und legte die Kriterien fest, anhand deren zu beurteilen ist, ob dieser Gesamtschutz tatsächlich geachtet wird. Der EuGH kam außerdem zu dem Schluss, dass solche Tarifverträge einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können müssen. Im Einzelnen:

Die Richtlinie 2008/104 vereint die Ziele, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Vielfalt der Arbeitsmärkte zu achten. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie erfordert durch seine Bezugnahme auf den Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ nicht, ein den Leiharbeitnehmern eigenes Schutzniveau zu berücksichtigen, das über dasjenige hinausgeht, das durch nationales Recht und Unionsrecht betreffend die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die Arbeitnehmer im Allgemeinen festgelegt ist. Lassen die Sozialpartner jedoch durch einen Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen im Gegenzug Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen.

Ferner verlangt die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 vorgesehene abweichende Bestimmung, dass die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfüllt ist, konkret zu prüfen ist, indem für einen bestimmten Arbeitsplatz die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für die von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar eingestellten Arbeitnehmer gelten, mit denen verglichen werden, die für Leiharbeitnehmer gelten. So kann festgestellt werden, ob die in Bezug auf diese wesentlichen Bedingungen gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen. Diese Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern verlangt nicht, dass der betreffende Leiharbeitnehmer durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag an das Leiharbeitsunternehmen gebunden ist, da Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf alle Leiharbeitnehmer erlaubt, ohne danach zu unterscheiden, ob ihr Arbeitsvertrag mit einem Leiharbeitsunternehmen befristet oder unbefristet ist.

Ferner verlangt diese Pflicht nicht, dass die Mitgliedstaaten im Einzelnen die Voraussetzungen und Kriterien vorsehen, denen die Tarifverträge entsprechen müssen. Allerdings müssen die Sozialpartner, obwohl sie im Rahmen der Aushandlung und des Abschlusses von Tarifverträgen über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, unter Beachtung des Unionsrechts im Allgemeinen und der Richtlinie 2008/104 im Besonderen handeln. Die Bestimmungen dieser Richtlinie schreiben den Mitgliedstaaten somit zwar nicht den Erlass einer bestimmten Regelung vor, mit der der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern i.S.v. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 gewährleistet werden soll; die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, müssen jedoch dafür sorgen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulassen, insbesondere den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern achten. Diese Tarifverträge müssen daher einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können, um zu überprüfen, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern nachkommen.

Das BAG muss nun unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH über die Revision der klagenden Leiharbeitnehmerin entscheiden.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15.12.2022

Aktenzeichen: C-311/21